Ein Fiebertraum

    Überall herrschte großer Tumult. Die Schauspieler standen im Vestibül herum, unter das Publikum gemischt. Ich schob mich neben einen Kleinwüchsigen. Er trug eine weiße Maske. Nur ein waagerechter Strich ersetzte eines seiner Augen. Er sagte, er werde in dem Theaterstück die Rolle des Einäugigen spielen. Er hatte auch einen Buckel. Er zeigte, wie er sich später bewegen soll. Er hüpfte wie ein toll gewordener Riesenspatz hin und her und quiekte dabei dümmlich wie ein Ferkel. Er erzählte, sein Text sei noch nicht zu Ende geschrieben worden und er hoffe, dieser werde bis zum Beginn des Stückes fertig sein.
     Auch berühmte Schauspieler hatten sich unter die Menschenmenge gemischt, aber sie plauderten nicht miteinander, sondern spazierten nur schweigsam paarweise oder zu dritt umher. Ich wollte einen um ein Autogramm bitten, doch er sagte, er könne es nicht geben, da sonst seine Maske ihren Sinn verlöre. Außerdem habe er keinen Stift. Den ganzen Nachmittag suchte ich Mathilda. Ich fühlte seit langem, sie verheimlicht etwas, es ist, als meidete sie mich absichtlich. Sogar heute verschwand sie spurlos zwischen den Maskierten. Jemand sagte mir in dem Gedränge, er habe sie in einem nahen Saal gesehen. Ich ging in den Saal hinein, um sie zu erblicken, konnte sie aber wegen der Masken nicht wiedererkennen. Es waren dort viele Mädchen versammelt. Einige schlugen mit Holzhämmern gegen die Wände. Andere unternahmen nichts, doch offensichtlich verbargen sie Werkzeuge unter den Mänteln. Ich konnte Mathilda nicht finden. Plötzlich erschien eine große Schar Mädchen im Saal. Sie hatten alle die gleichen Masken auf. Auf jede hatte man in großen Lettern ein Ypsilon gezeichnet. Sie näherten sich in einer langen Reihe. Zu dritt. Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte, Mathilda schickte sie zu mir. Ich begann mich zu fürchten und flüchtete.
     Ich kehrte hierher zurück ins Theater. Es war heiß. Vielleicht wegen des Regens, der bereits am frühen Morgen losging und nun am Abend zum Dauerguss wurde. Aufrichtig gesagt, flüchtete ich vor dem Guss hierher in die Halle. Der Geruch von nassen Mänteln mischte sich mit dem Geruch der feuchten Papiermasken und dem Tabakrauch. Obzwar das Rauchen für heute verboten worden war. Doch es läßt sich nicht leugnen, unter den weiten Masken konnte man heimlich rauchen. Auch ich habe es versucht, doch der Tabakrauch, der sich mit dem Farbgeruch meiner Maske vermischte, schmeckte so stark nach Gas, dass ich lieber verzichtete. Ich hatte mir eine Maske aus einem großen glatten italienischen Plakat zurechtgebastelt. Nur mit zwei großen Löchern vor meinen Augen, damit ich etwas sehen konnte. Unter meinem Hut saß ein großer Papierzylinder, der rundherum mit bunten Bildern und italienischen Zeitungstexten bedruckt war. Ich wollte mir eine schöne Holzmaske kaufen. Als ich vor den Ypsilondamen flüchtete, ging ich in einen Laden. Doch da verkaufte man nur Sachen, von denen ich fand, sie passten weder zu meinem Mantel noch zu meinem Hut, obwohl eine Maske mir ausgesprochen gut gefiel. Selbst der Händler wollte mich überreden. Sie war wunderschön, doch zu elegant und zu teuer für mich.
     Plötzlich läutete es. Obgleich jeder dachte, die Türen öffneten sich gleich, kam es doch anders. Die Lautsprecher ertönten und teilten mit: bedauerlicherweise könne das Theaterstück für einige Zeit noch nicht anfangen, da der Text nicht ganz fertig geworden sei. Falls er in kurzer Zeit zur Verfügung stehe, könne man selbst dann nur den ersten Teil darbieten. Danach folge eine lange Pause, damit man unterdessen den zweiten Teil schreiben könne. Auf die Musik müssten wir verzichten. Man werde sie in einigen Tagen im Radio vorstellen.
     Der berühmte Schauspieler, den ich vor Kurzem um ein Autogramm gebeten hatte - ich konnte ihn leider wegen der Maske nicht erkennen - kam zu mir und sagte beruhigend, ich hätte bestimmt schon einen Platz sicher, da wegen der Nachricht viele gehen werden. Während er sprach, drang Rauch aus seiner Maske, was mich ängstigte. Ich glaubte eine Vision zu haben. Seit einigen Tagen fühlte ich mich krank. Dann ahnte ich, auch er raucht heimlich eine Zigarrette. Stotternd bat ich um Verzeihung und rannte weg, weil es mir so schien, als sei auch Mathilda in der Menge, da ein Fräulein mit hohem Hut an mir vorbeischlich. Ich eilte ihr nach. Ein Mann verbeugte sich vor mir. "Guten Abend", sagte das Fräulein, von dem ich annahm, es sei Mathilda, "heute abend gleiche ich allen anderen auf wunderbare Weise." Aus diesen Worten wurde mir sofort klar, warum ich vermutete, sie sei Mathilda. Ich hätte lieber den Tumult verlassen, doch draußen auf der Straße wäre ich völlig durchnäßt worden. Ich blieb. Jemand legte seine Hand auf meine Schulter. "Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr. Sie erinnern mich an niemanden."
     Er war ein hoch gewachsener Mann. Was will er von mir? Ich stotterte dummes Zeug und versuchte im Gedränge zu verschwinden. Gerade ging ich an einer Tür vorbei, als ein Platzanweiser sie öffnete und sagte, wir sollen hineingehen, doch nur einige, weil das Theaterstück heute nur wenige Zuschauer erfordere. Weil ich gerade dort stand, ging auch ich mehr zufällig hinein. Der Zuschauerraum war völlig leer. Sitzplätze fehlten überhaupt. Überall wirre Drapierungen in schreienden Farben. Auf dem Fußboden ein schwarzer Teppich. An einigen Stellen ausgebreitete Eisbärenfelle. Die Intendantin stand Auge in Auge zu mir. Sie hatte eine grüne Papiermaske auf, auch ihre Kleidung war aus grünem Papier gefertigt. Aus ihrem Gürtel lugte wie ein Dolch ein Maiskolben hervor. Leise verwarnte sie uns, wir dürften weder die Hüte noch die Mäntel ablegen und hätten uns hinzukauern. Sie holte eine kleine schwarze Schachtel unter ihrem Kleid hervor. Dann hockte auch sie sich hin und fing an in falschem Ton zu singen. Wir Zuschauer platzierten uns vor ihr, dicht gedrängt, einer neben dem anderen, da die Platzanweiser uns zusammentrieben. Auf einige von uns legten die Platzanweiser kleine Teppiche. Auch ich erhielt einen. Ich fing deshalb an zu schwitzen. Ich ertrug es einige Zeit, legte ihn dann aber vor mich hin und kniete mich auf ihn.
     "Sie haben recht", sagte eine Dame neben mir mit gedämpfter Stimme. "Cäsar, siehst du, was für ein kluger Mensch er ist?" Cäsar, den ich nicht mehr zu Gesicht bekam, weil die Lampen langsam verloschen, atmete geräuschvoll aus und ein.
     "Cäsar, mein Lieber, Gib acht! Oho, schlaf mir nicht ein", sprach die Frau wieder. Ich legte meine Hand auf ihr Knie, um sie zum Schweigen zu bringen, weil die Intendantin uns bereits mehrmals nervös angesehen hatte. Dabei sang sie weiterhin einen unverständlichen Text und ließ die Holzschachtel tanzen, als ob es eine Marionette wäre. Danach hüpfte sie in Hockstellung vorwärts. Sie sang weiter, und mit einer Handbewegung forderte sie uns auf mitzusingen. Wir beobachteten gespannt jede ihrer Bewegungen. Niemand von uns hatte bis jetzt eine ähnliche Aufführung gesehen. Wir krochen langsam hinter ihr her, unverändert in Hockstellung. Sie sang pausenlos und hob langsam die Schachtel in die Höhe.
     Die Frau, die neben mir kauerte, atmete ein, als wollte sie etwas zu Cäsar sagen. Warnend berührte ich ihr Bein und ließ meine Hand auf ihrer nackten Haut ruhen. Wie ich aus dieser zufälligen Berührung spürte, war ihr Bein wohlgeformt, kühl und ein wenig feucht, ähnlich wie die Beine Mathildas. Einen Moment lang dachte ich, sie sei Mathilda. Aber Mathilda würde sich nie auf einen schwarzen Teppich hocken. Sie duldete kurze Zeit meine Hand, betrachtete mich dann ironisch und stieß mich zur Seite. Die Intendantin lief einige Schritte im Rückwärtsgang. Hüpfend folgten wir ihr. Das Licht verdunkelte sich fast völlig. An seiner Stelle drang ein rotes Dämmerlicht von irgendwoher ein. Die Hitze und die durch das ungewöhnliche Spektakel bedingte Nervenanspannung, fingen an unerträglich zu werden. Wir sahen schon nicht mehr auf die Intendantin, sondern auf eine völlig lichtlose Bühne. Es schien, als bewegte sich da etwas. Ob man vielleicht dort die Aufführung fortsetzen wird?
     Plötzlich leuchteten wieder die Lampen auf.
     "Ungefähr so viel konnte ich Ihnen als Vorspiel anbieten", sagte die Intendantin sich erhebend, " jetzt bitte ich Sie zu gehen, damit ich dieses Vorspiel der nächsten Gruppe vorstellen kann. Ich hoffe, wenn alle Gruppen das Vorspiel angesehen haben, wird der Text vielleicht fertig sein und wir können mit dem wirklichen Theaterstück anfangen."
     Entrüstet erhoben wir uns. Doch unterdessen ließen die Platzanweiser schon eine neue Gruppe hereinkommen und wir mussten gehen. Einen winzigen Moment lang blieb ich an meinem Platz, aber da ergriff mich gleich jemand und stieß mich nach draußen.
     "Was ist das? Was erwarten Sie? Verstehen Sie nicht, die nächste Gruppe ist an der Reihe?"
     Ich blickte ihn an. Es war der hoch gewachsene Mann, der mich vor Kurzem im Vestibül angesprochen hatte. Er trug eine Maske aus Zeitungspapier, mit einer großen Nase. Ich versuchte zu widerstehen, doch er war viel stärker als ich. Er stieß mich nicht nur bis zum Eingang des Zuschauerraumes vor sich her, sondern weiter durch das Vestibül nach draußen auf die Straße in den strömenden Regen.
     Vor dem Theater lag Schmutz. Darauf eine Menge weggeworfener Papierschnipsel. Der Mann in der Zeitungsmaske blickte sich um. Im Vergleich zum Tumult am Nachmittag, lag die Straße fast verlassen da. Nur wenige Menschen spazierten dort, doch es näherte sich eine größere Gruppe. Sie sangen. Eine unbekannte Hymne. Sie sangen mitreißend schön. Ich wartete auf sie. Als sie näher kamen, bemerkte ich, dass es die Ypsilonmasken waren. Nachmittags hatte ich mich geirrt. Es waren nicht nur Mädchen. Als sie neben mir ankamen, hörte ich das Geräusch eines hinstürzenden Körpers. In dem einsetzenden Gedränge konnte ich nicht sehen, was geschah. Aber als ich mich unter sie mischte, bemerkte ich, jemand lag im Schmutz. Die anderen versuchten ihn wiederzubeleben. Sie versuchten ihn hochzuheben. Der Gesang dauerte an, bis er dann auf chaotische Weise abbrach. Stattdessen erhob sich Geschrei: "Ich habe doch gesagt, wir hätten ihn nicht mitnehmen sollen!" "Er braucht Wasser!" "Nicht Wasser, Luft braucht er!" "Nehmt ihm die Maske ab!" Jemand richtete eine Taschenlampe auf den Unglücklichen. Eine Hand fing an die Maske von seinem Gesicht zu ziehen. Unter dem zerknüllten Papier tauchte langsam das Gesicht unter dem grünen Haar auf. Um Augen und Mund war weiße Schminke aufgetragen, auf dem Gesicht ein vermischtes Rot. Mit einem Satz, es erschien das Gesicht eines Clowns. Seine Augen starrten gläsern ins Nichts. Ich vermute, jeder bekam es mit, er war tot.
     Man schrie nach einem Arzt. Einige Ypsilonmasken zerrten bereits eine dicke Gestalt aus dem Theater heraus, die ein Arztköfferchen trug.
     "Ich flehe Sie an! Um Gottes Willen! Sie irren!", schrie der Dicke immerzu.
     "Führt ihn her. Vielleicht kann er helfen", rief einer von denen, die um den Leichnam herum standen.
     "Aber ich flehe Sie an! Ich bin nur ein Schauspieler! Ich wäre Arzt nur in dem Stück. Selbst mein Text ist noch nicht fertig."
     Die Ypsilone zogen ihn weiter. Ich wollte Ihnen erklären, warum der unglückliche Schauspieler noch nicht heilen könne, da erst der Text vom Vorspiel fertig sei. Aber man stieß mich weg.
     "Wenn er Widerstand leistet, müssen wir ihn töten!", brüllte ein Ypsilon.
     "Verbrennt ihn auf dem Scheiterhaufen!"
     "Hängt ihn!" Das brüllten schon viele. Und wieder fingen sie an zu singen. Sie sangen die vorherige Hymne, doch nun in frenetischer Ekstase. Der Zeitungsmaskenmann, der mich aus dem Theater hinausgetrieben hatte, brüllte immerzu und sang mit ihnen.
     "Hängt ihn auf! Hängt ihn auf!", schrien viele im Chor.
     Ich versuchte zu verschwinden. Als ich die Straßenecke erreichte, rannte ich los. Ich lief so lange ich konnte und hielt dann an einem Briefkasten an, um mir den Schweiß abzuwischen. Ich legte meinen Hut auf den Briefkasten. Ich ließ ihn sogar dort, da der Hut ausgezeichnet zu dem Kasten passte. Ich hätte es bedauert, den Briefkasten hutlos im strömenden Regen stehen zu lassen.
     Erst später kam es mir in den Sinn: Es wäre klüger gewesen, wenn ich die Adresse von Mathilda auf den Hut geschrieben hätte.